1. Was ist die Politik des Mittleren Weges?
Die Politik des Mittleren Weges für echte Autonomie für das tibetische Volk (tib.„Umaylam“) ist eine Politik, die Seine Heiligkeit der Dalai Lama 1974 konzipierte in dem Bemühen, die chinesische Regierung zu einem Dialog zu bewegen und einen friedlichen Weg zum Schutz der einzigartigen tibetischen Kultur und Identität zu finden. Es ist eine Politik, die durch eine Reihe von Diskussionen, die über viele Jahrzehnte hinweg zwischen der Tibetischen Zentralverwaltung (CTA, Central Tibetan Administration) und dem tibetischen Volk geführt wurden, demokratisch angenommen wurde. Es ist ein für beide Seiten vorteilhaftes Angebot, das einen mittleren Weg zwischen dem Status quo und der Unabhängigkeit einschlägt, einen Weg, der die gegenwärtige repressive und kolonialistische Politik der chinesischen Regierung gegenüber dem tibetischen Volk kategorisch ablehnt, ohne jedoch die Loslösung von der Volksrepublik China anzustreben.
Es ist ein pragmatischer Ansatz, der die vitalen Interessen beider Beteiligten wahrt: für die Tibeter den Schutz und die Bewahrung ihrer Identität und Würde, und für China
die Souveränität und territoriale Integrität des Mutterlandes. Er hat 1979 einen direkten Kontakt zwischen den Abgesandten Seiner Heiligkeit des Dalai Lama und der chinesischen
Regierung zustande gebracht und es möglich gemacht, dass vier Erkundungsdelegationen der Exilführung ausgedehnte Reisen in Tibet unternehmen und 1982 und 1984 Sondierungsgespräche
stattfinden konnten. Von 2002 bis 2010 fanden neun formelle Gesprächsrunden und ein informelles Treffen zwischen den Abgesandten Seiner Heiligkeit des Dalai Lama und Vertretern
der chinesischen Führung statt.
2. Warum Autonomie anstreben?
Die tibetische Führung ist der Meinung, dass echte Autonomie eine pragmatische Lösung ist, die sowohl Tibet als auch China zum Vorteil gereicht.
In der heutigen interdependenten Welt können Länder nicht isoliert, ohne auf andere angewiesen zu sein, existieren. Viele Länder treten heute
einige ihrer eigenen souveränen Rechte ab, indem sie sich Staatenbünden wie z.B. der Europäischen Union anschließen.
3. Wie wird echte Autonomie für Tibet aussehen?
Die Tibeter streben nach einer Form der Selbstverwaltung, die es ihnen gestatten würde, ihren eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden, ohne jedoch die Einheit und Stabilität der
Volksrepublik China in Frage zu stellen. Die Tibeter streben eine Form von Autonomie an, bei der sie Traditionen und das gleiche Wertesystem, die gleiche Sprache, Lebensweise und
Geographie teilen. Ihre Vereinigung zu einer einzigen Verwaltungseinheit wäre eine
effizientere und effektivere Form des Regierens als die gegenwärtige Struktur, bei der die Tibeter aufgeteilt sind auf die Autonome Region Tibet
(ART) und die angrenzenden Provinzen Qinghai, Sichuan, Gansu und Yunnan, die überwiegend von Chinesen bewohnt sind.
Die chinesische Regierung behauptet, dass die tibetische Führung die Absicht habe, „alle Chinesen“ aus den tibetischen Gebieten zu vertreiben. Das Memorandum über echte
Auto nomie für das tibetische Volk jedoch hat in aller Deutlichkeit klargestellt, dass dies nicht der Fall ist: „Wir haben nicht die Absicht, Nicht Tibeter des
Landes zu verweisen. Unsere Sorge gilt der bewusst gesteuerten massenhaften Ansiedlung von überwiegend Han-Chinesen, aber auch Angehörigen anderer Nationalitäten, in vielen
tibetischen Gebieten, was im Gegenzug zu einer Marginalisierung der autochthonen tibetischen Bevölkerung führt.“ Das Memorandum fordert, dass die tibetischen Gebiete
eine tibetische Mehrheit haben sollten, um die einzig artige tibetische Identität zu bewahren und zu fördern. Der Anteil der tibetischen Bevölkerung in der Volksrepublik China
wird auf 6,2
Millionen geschätzt (Quelle: 6. Nationale Volks zählung der VRCh), was etwa 0,47 Prozent der Gesamtbevölkerung Chinas entspricht.
Eine tibetische Regionalverwaltung würde den Schutz und die Förderung der elf Grund bedürfnisse der Tibeter regeln. Dazu gehören:
Sprache, Kultur, Religion, Bildung, Umweltschutz, Nutzung der Bodenschätze, wirtschaftliche Entwicklung und Handel, öffentliche Gesundheit, öffentliche Sicherheit, Regelung der Bevölkerungsmigration, sowie Austausch mit anderen Ländern in den Bereichen Kultur, Bildung und Religion.
Dies steht sowohl im Einklang mit dem Regionalen Nationalen Autonomiegesetz wie auch mit der Verfassung der Volksrepublik China.
4. Erfährt die Politik des Mittleren Weges breite Unterstützung durch das tibetische Volk? Wenn ja, wie hat das tibetische Volk
seine Unterstützung gezeigt?
Die Politik des Mittleren Weges wurde als Resultat mehrheitlicher Zustimmung in einer Reihe von Versammlungen und Meinungserhebungen
zwischen 1988 und 2010 als offizielle Politik der Tibetischen Zentralverwaltung angenommen. Dies geschah in einem demokratischen Verfahren,
bei dem direkt die Meinungen der Vertreter der tibetischen Öffentlichkeit eingeholt wurden. Bei einer weiteren Meinungsumfrage 1997 äußerten
64 Prozent aller Befragten, dass es nicht notwendig
sei, ein Referendum abzuhalten, und dass die Befragten jede politische Linie, die der Dalai Lama betreibe, unterstützen würden. Als Reaktion auf das Ergebnis der Umfrage verabschiedete das Tibetische Parlament-im-Exil am 18. September 1997 einstimmig eine Resolution zugunsten der Politik des Mittleren Weges. In ähnlicher Weise bekräftigten auch über 80 Prozent der Stimmen, die während der sechstägigen Ersten Sondergeneral versammlung im November 2008 erhobenen wurden, wieder ihre Unterstützung für die Politik des Mittleren Weges. Schließlich wurde im März 2010 erneut einstimmig eine weitere Resolution zur Unterstützung dieser Politik vom Parlament verabschiedet. Somit genießt die Politik des Mittleren Weges die Unterstützung einer überwältigenden Mehrheit der Tibeter.
5. Wie haben die Tibeter innerhalb Tibets ihre Unterstützung für die Politik des Mittleren Weges bekundet?
Obwohl es unmöglich ist, innerhalb Tibets Meinungen offen einzuholen, haben Seine Heiligkeit der Dalai Lama und die Tibetische Zentralverwaltung alles in ihrer Macht
Stehende getan, um die Ansichten der dortigen Bevölkerung in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. So wurden z.B. neu aus Tibet eingetroffene Tibeter eingeladen, an dem
speziellen politischen Treffen im Juni 1988 teilzunehmen. Auch während einer 1995/96 durchgeführten Meinungsumfrage zu dem Referendum wurden Meinungen aus Tibet gesammelt. Sowohl
schriftliche wie mündliche
Vorschläge wurden von Tibetern innerhalb Tibets auch für die Erste Sondergeneralversammlung im November 2008 eingeholt. Die Mehrheit dieser Meinungen befürwortete die Politik des
Mittleren Weges.
Darüber hinaus erfuhr die Politik des Mittleren Weges auch Unterstützung durch hoch stehende tibetische Führer und Intellektuelle in Tibet selbst,
zu ihnen gehört der verstorbene Panchen Lama, der offen seine Unterstützung für die Politik des Mittleren Weges geäußert hat, und weitere
hochrangige Persönlichkeiten wie der verstorbene Ngapo Ngawang Jigme, Baba PhuntsokWangyal, Dorjee Tseten, Sangye Yeshi (Tian Bao), Tashi
Tsering und Yangling Dorjee.
6. Plädiert die Politik des Mittleren Weges nur für kulturelle Autonomie?
Nein, die Politik des Mittleren Weges setzt sich für Selbstverwaltung ein. Diese beschränkt sich nicht auf kulturelle Autonomie. Das Memorandum
über echte Autonomie für das tibetische Volk zählt im Abschnitt „Grundbedürfnisse der Tibeter“ elf Bereiche der Selbstverwaltung auf, wenn die
tibetische Nationalität in der Volksrepublik China unter eine einzige Verwaltung gestellt ist.
Diese „Grundbedürfnisse der Tibeter“ sind folgende:
1. Sprache
2. Kultur
3. Religion
4. Bildung
5. Umweltschutz
6. Nutzung der Bodenschätze
7. wirtschaftliche Entwicklung und Handel
8. öffentliche Gesundheit
9. öffentliche Sicherheit
10. Regelung der Bevölkerungsmigration
11. Austausch mit anderen Ländern in den Bereichen Kultur, Bildung und Religion
7. Was wird bei einer echten Autonomie für das tibetische Volk aus den Nicht-Tibetern, die in der heutigen Autonomen Region Tibet und den benachbarten tibetischen Siedlungsgebieten leben?
In der Note zum Memorandum über echte Autonomie für das tibetische Volk heißt es: „Es ist nicht unsere Absicht, Nicht-Tibeter, die sich auf
Dauer in Tibet angesiedelt haben und dort schon seit längerer Zeit leben und aufgewachsen sind, des Landes zu verweisen.“ Was uns Sorge macht,
ist die bewusst initiierte massenhafte Ansiedlung von vorwiegend Han-Chinesen, aber auch Angehörigen einiger anderer Nationalitäten, in
verschiedenen tibetischen Gebieten, was zu einer Marginalisierung der einheimischen Bevölkerung führt und eine Bedrohung für die empfindliche
Umwelt Tibets darstellt. Der Vorschlag, die nicht dauerhaft ansässige Bevölkerung zu regulieren, steht im Einklang mit der chinesischen
Verfassung und mit Artikel 43 des Gesetzes über Regionale Nationale Autonomie, der besagt: „Entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen
sollen die Selbstverwaltungsorgane der nationalen autonomen Gebiete Maßnahmen zur Kontrolle der nicht dauerhaft ansässigen Bevölkerung
erarbeiten.’“
8. Wird echte Autonomie für das tibetische Volk der Bewahrung seiner Umwelt zugute kommen?
Tibet mit seinem empfindlichen Ökosystem ist die Hauptquelle der großen Flüsse Asiens. Heute erleidet Tibets traditionelle Umwelt irreparablen
Schaden. „Umweltschutz“ und „Nutzung der Bodenschätze“ sind unter den Punkten 5 und 6 der Grundbedürfnisse der Tibeter im Memorandum
über echte Autonomie für das tibetische Volkaufgelistet. Die beschleunigte kulturelle Assimilierung, die Umweltzerstörung und die exzessive Ausbeutung der Bodenschätze sind
die Hauptgründe, weswegen die Tibetische Zentral verwaltung ihr Drängen auf echte Autonomie für das tibetische Volk intensiviert. Von Jahr zu Jahr zeigt sich zunehmend, dass die
chinesische Umwelt- und Entwicklungspolitik nicht nachhaltig
ist und zu langfristiger Schädigung der Umwelt führt. Ein Beispiel dafür ist das Aufstauen von Flusssystemen, deren Einzugsgebiete bis nach
Indien, Pakistan, Burma, Vietnam, Kambodscha, Laos und in das chinesische Kernland reichen und somit fast die halbe Weltbevölkerung betreffen.
9. Warum betreibt die Tibetische Zentralverwaltung die Politik des Mittleren Weges, und was hat diese bislang bewirkt?